Fall zum Strafverfahrensrecht

Verabreichung eines Brechmittels

im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens

 

Eigentlich waren es vier Fälle, doch hatten alle einen gemeinsamen Sachverhalt:

Der Angeklagte war von Drogenfahndern dabei beobachtet worden, wie er Drogen an Abhängige verkaufte. Als die Polizeibeamten zugreifen wollten, steckte der Angeklagte die noch vorhandenen Betäubungsmittel in den Mund und verschluckte sie. Es wurde ihm auf Anordnung nach § 81a StPO ein Brechmittel verabreicht. Die dabei wieder zu Tage geförderten Beweismittel fanden im Strafverfahren gegen den Angeklagten Verwertung, wogegen sich dieser mit der Revision wehrte.

Das OLG Frankfurt entschied den ersten dieser Fälle wie folgt:

1. § 81a STPO rechtfertigt nicht das gewaltsame Beibringen eines Brechmittels. Denn dabei handelt es sich weder um eine körperliche Untersuchung noch um einen körperlichen Eingriff, der von einem Arzt im Sinne dieser Norm zu Untersuchungszwecken vorgenommen wird.
2. Die zwangsweise Verabreichung eines Brechmittels verstößt gegen den Grundsatz der Passivität. Denn sie soll den Beschuldigten zwingen, aktiv etwas zu tun, wozu er nicht bereit ist, nämlich sich zu erbrechen.
3. Das rechtsgrundlose zwangsweise Verabreichen von Brechmitteln verstößt gegen die Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde und gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Angeklagten.
4. Aus dem Beweiserhebungsverbot und den konkreten weiteren Umständen des Einzelfalles folgt ein Verwertungsverbot.
5. Es ist nicht Aufgabe der Strafverfolgungsbehörde, mittels Gewaltanwendung der erheblichen Gesundheitsgefahr entgegen zu wirken, die durch inkorporierte Rauschgiftbehältnisse entsteht.
(Fundstellen StV 1996, 651 und NJW 1997, 1647).

Über diese Entscheidung wurde viel geschrieben:
Weßlau StV 1997, 341
Schaefer, NJW 1997, 2437
Vahle DVP 1997, 482,
Rogall, NStZ 1998, 66
Benfer, JR 1998, 53
Fahl, JA 1998, 277
Grüner, JuS 1999, 122
Dettmeyer, MedR 2000, 316-321

Demgegenüber hatte das OLG Düsseldorf keine Bedenken gegen die Verabreichung eines Brechmittels. Seine Entscheidung im Strafverfahren wurde mit einer - allerdings unzulässigen - Verfassungsbeschwerde angegriffen. Am 19.9.1999 entschied das Bundesverfassungsgericht:

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Sie ist nicht zulässig erhoben worden.

Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht der Grundsatz der Subsidiarität dieses außerordentlichen Rechtsbehelfs (vgl. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) entgegen. Dieser Grundsatz will unter anderem erreichen, daß das Bundesverfassungsgericht weitreichende Entscheidungen nicht auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage trifft (vgl. BVerfGE 79, 1). Dem liegt mit Blick auf § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG unter anderem die Erwägung zugrunde, daß das Bundesverfassungsgericht vor seiner Entscheidung Gelegenheit haben soll, zunächst die Fallanschauung und die Rechtsauffassung der Fachgerichte kennenzulernen (vgl. BVerfGE 9, 3; 51, 386). Außerdem wird sichergestellt, daß der Vorrang gewahrt bleibt, der den allgemein zuständigen Gerichten bei der Sachverhaltsermittlung wie bei der Auslegung der einschlägigen einfachrechtlichen Vorschriften nach der gesetzlichen Kompetenzordnung und im Hinblick auf die größere Sachnähe gebührt (vgl. BVerfGE 55, 244 ).

Diesen Vorrang gilt es auch hier zu beachten, weil wegen der Verabreichung von mehreren Brechmitteln, darunter das Morphiumderivat Apomorphin, mit Blick auf das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlich relevante, insbesondere medizinische Fragen zu klären sind (vgl. BVerfGE 16, 194 ; 47, 239 ), die noch nicht Gegenstand eines fachgerichtlichen Verfahrens waren (vgl. BVerfG, Beschluß der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Januar 1999 - 2 BvR 1838/98 -, EuGRZ 1999, S. 170).

Diese Klärung herbeizuführen, ist nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 18, 85; BVerfG, Beschluß der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. August 1999 - 1 BvR 1022/99 -). Dies wäre mit Sinn und Zweck des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht vereinbar. Der Beschwerdeführer hat gegen die auf § 81a Abs. 1 Satz 2 STPO gestützte Maßnahme - die auch im Hinblick auf die durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde und den in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG enthaltenen Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht begegnet (vgl. BVerfGE 16, 194; 17, 108; 27, 211 ; 47, 239) - im sachnäheren Strafverfahren nicht alle prozessualen Möglichkeiten genutzt, um eine Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Grundrechts des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu verhindern (vgl. BVerfGE 81, 22; 95, 96 ).
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen. Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Fundstellen NStZ 2000, 96 = StV 2000, 1.

Auch diese Entscheidung wurde kommentiert, vor allem im Hinblick auf den oben unterstrichen gekennzeichneten Satz (Naucke, StV 2000, 1 und Rixen, Stephan, NStZ, 2000, 381).

Am 19.1.2000 entschied das OLG Bremen:

Besteht ein Anfangsverdacht des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln, weil der Betroffene eine weiße Kugel verschluckt hat, von der aufgrund der Begleitumstände, insbesondere des auffälligen Verhaltens des Betroffenen anzunehmen ist, daß es sich um Heroin handelt, so dient die Anordnung und Durchführung einer Brechmittelvergabe und anschließenden Exkorporation der weiteren Sachverhaltsaufklärung und ist auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit nicht zu beanstanden.
Fundstelle NStZ-RR 2000, 270

Dem hat sich mittlerweile das Kammergericht Berlin angeschlossen (Beschluss vom 28. März 2000 Az: (4) 1 Ss 87/98 (74/98)):

Bei der Verabreichung von Brechmitteln zur Erlangung von Betäubungsmittelportionen, die der Beschuldigte verschluckt hat, handelt es sich um einen körperlichen Eingriff im Sinne des § 81a Abs 1 S 1 STPO, der auch ohne Einwilligung des Beschuldigten zulässig ist, wenn er von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommen wird und kein Nachteil für die Gesundheit des Beschuldigten zu befürchten ist. Der Einsatz von Brechmitteln begegnet keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken.